Das Elend der Philologie

Das Elend der Philologie

»Mitgemeint und mitgenannt – viele Frauen freuen sich!«
(Quelle: Siehe unten)

Kauft man ein Buch, um seine Aversionen und Vorurteile zu bestätigen?

Nein. Man leiht es.
(Siehe auch https://neuleerer.blog/2021/04/11/lesen-ii/)

***

Lucia Clara Rocktäschel hat nicht nur das richtige Alter für radikale Umstürze, sondern auch die nötige Unbedarftheit, um die Frage nach dem Maß der Schäden gut gelaunt zu ignorieren. Keine Revolution lässt sich mit 60-Jährigen veranstalten; diese gelten dann nicht als weise oder wenigstens erfahren, sondern als ewiggestrig. Ihr Robespierre heißt Luise Pusch; für den absolutistischen Adel stehen die alten weißen Männer; da Lavoisier, hier Walter Krämer.

»Ah! ça ira, ça ira, ça ira,
Les aristocrates à la lanterne!
«

Na, so schlimm wird’s schon nicht kommen; es geht nur der deutschen Sprache an den Kragen.

Nur?

***

Die Reihe »für dummies« soll helfen, Fachwissen zu erwerben. Womöglich wird das abgefragt, denn es gibt Schummelseiten, kompakte Informationen auf einer Seite, die man auch heraustrennen kann. Der erste Minuspunkt geht an den Layouter1, denn die Stichpunkte zu einem Begriff sollten auch auf einen Blick, also auf einer Seite, zu sehen sein.

»In Teil II [ab Seite 55] geht es ans Eingemachte.«
Bei insgesamt 160 Seiten ist also ein Drittel für Einführung und Motivsuche verbraucht.
Rocktäschel generiert einen Text mit den Worten

Bürger
Kunden
Kollegen
Asiat [beim Asiaten, Restaurant]
Freunde.

»Vielleicht ist Ihnen auf den ersten Blick gar nicht aufgefallen, dass dieser Text nicht geschlechtergerecht gestaltet war? Das ist aber nicht schlimm. Die meisten Menschen sind das generische Maskulinum einfach so gewohnt, dass sie gar nicht auf die Idee kommen, es zu hinterfragen.«
(Seite 46)

Um die natürlichen Zahlen vollständig und widerspruchsweise zu beschreiben, genügen fünf Axiome. Rocktäschel und Konsorten brauchen für ihre Mission sogar nur eins: Die Sprache, genau genommen die deutsche Sprache, wird den Geschlechtern nicht gerecht.

***

Jetzt kann die Maus kreißen, so viel sie will – sie wird keinen Berg gebären.
Man kann mit einem einzigen Axiom – die Sprache muss den Geschlechtern gerecht sein – eine gewisse Konsistenz erreichen. Will man auf diese Weise eine Sprache konstruieren, scheitert man allerdings an zwei Problemen:

1. Es gibt keine konsequent bijektive Zuordnung zwischen Signifikant und Signifikat; jeder, der einmal auch nur im Schatten eines Linguisten stand, weiß, dass das auch niemals der Fall sein wird.
Stopp mal. Das versteht doch keiner.
Eben.2
2. Die feministischen Linguisten, die in erster Linie Feministen sind, erklären zu Recht, dass die Qualität der Kommunikation sich an dem misst, was »ankommt«. Wenn sie zum Beispiel behaupten, dass mit dem Wort Linguisten (oder Physiker oder Erzieher) nur Männer gemeint sein können, dann werden sie und einige andere das auch so sehen.
Einige – das ist der Haken. Diese – einige – richten sich ein, mit ihrer Sprache, in ihrer Welt.
Und du, sagen sie trotzig, musst draußen bleiben.

Mal abgesehen von den Kollateralschäden –

»Wenn man von Jüdinnen und Juden, kurz Jüd*innen, sprechen muss, weil Juden als maskuliner Sammelbegriff unzulässig geworden ist, dann bekommen Leute wie ich auf neue Weise einen Stern verpasst.«
(Ellen Presser)

– mal abgesehen davon, dass geschlechtergerecht ganz gewiss nicht gerecht ist:
Es kommt häufig nicht das an, was ankommen soll, sondern etwas anderes, im besten Fall gar nichts und praktisch auf jeden Fall Verdruss.

Ein Beispielsatz bei Rocktäschel lautet:

»Spesso il paziente è stato da molti medici diversi.«
Nein, das schreibt sie natürlich nicht. Sie schlägt vor:
»Oft ist der_die Patient_in schon bei vielen verschiedenen Ärzt_innen gewesen.«

Der Unterschied ist kleiner als man denkt. Der deutsche Satz drückt auch ungegendert nicht genau das aus, was man sagen möchte.3 Geübte Leser bügeln das beim Lesen eher unbewusst aus. Damit sind wir bei geschätzt 20 Millionen4 deutschsprechenden und potenziell deutschlesenden Personen, die das nicht können, sondern stutzen und stolpern und also von vornherein ausgeschlossen werden. Sie verstehen den gegenderten Satz so, wie geübte Leser, die auch das eine oder andere lateinische Wort kennen, den italienischen Satz verstehen: Man weiß so etwa, worum es geht. Von Präzision keine Spur.
Der ganz moderne, eher modische Zirkus mit diversen Sonderzeichen wird für einige hundert Menschen veranstaltet – jene, deren Geschlecht nicht eindeutig männlich oder weiblich ist, die man im Übrigen auch nicht alle gefragt hat. Die sind alle mitgemeint.

***

Für Rocktäschel sind diese Überlegungen abgeschlossen. Aber warum geht sie dann nicht sofort in medias res?
HTML für dummies hält sich auch nicht ewig mit den Motiven auf. Fünf Seiten für den Überblick und die nötigen Konventionen genügen, dann geht es los. Fachbücher, auch für dummies, sind für Menschen, die etwas lernen wollen und meistens wissen, warum.

Nun ja, sie wird offenkundig doch von einem gewissen Unbehagen geplagt.
»Vielleicht«, schreibt sie an anderer Stelle, »kommen wir eines Tages wieder zurück zu einer Bezeichnung für alle Geschlechter – sei es nun das generische Maskulinum oder eine neue neutrale Form.«

Entsprechend behutsam, mit der Attitüde einer Grundschullehrerin, nimmt sie den Leser an die Hand. Alles nicht so schlimm, man kann auch Fehler machen oder unsicher sein.

»Die richtige Art zu gendern gibt es nicht«
(Seite 149)
»Es gibt keine falsche Art zu gendern.«
(Seite 150)

Entsprechend lustlos ist auch die Motivierung.
»Woran denken Sie bei den folgenden Beispielen eher – an Männer oder an Frauen?

Fünf Freunde treffen sich in einer Sportbar, um gemeinsam ein Fußballspiel anzusehen.
Ein Mann steigt in die U-Bahn und bietet eine Obdachlosenzeitung zum Kauf an. Sofort kramen einige Passagiere in ihren Handtaschen.
Das Kollegium des Kindergartens plant einen Elternabend«

Was soll das? Ich weiß, dass es mehrheitlich, aber nicht ausschließlich Männer sind, die Fußball schauen. Das Kollegium (sagt man so?) eines Kindergartens besteht mehrheitlich, manchmal ausschließlich aus Frauen und beim zweiten Beispiel ist es mir das »Problem« erst beim Abschreiben aufgefallen: Mann ist Mann, Obdachlosigkeit betrifft überwiegend, aber nicht ausschließlich, Männer – ach so: Handtaschen. Ja, das sind dann Frauen.
Oder Männer wie ich, die sich so ein kleines Dingens über die Schulter hängen, wenn sie unterwegs nur wenig brauchen.
Ja, man kann jetzt ein paar »in« oder »innen« einstreuen, so als nette Geste. Man kann als Mann auch im Fahrstuhl den Hut abnehmen oder einer Dame in den Mantel helfen. Ich fürchte, viele Frauen mögen das gar nicht mehr und das Gendern lehnen sie mehrheitlich ab.5

Als Feinschmecker fällt mir auf, dass der Mann wohl eher einsteigt, dass kein Kollegium planen kann, sondern die Kollegen und dass ich im ersten Satz, wenn es etwa um eine Bildbeschreibung geht, von fünf (evtl. jungen) Leuten schreiben oder sprechen würde. Ich sehe jedenfalls nicht, dass Frauen sprachlich versteckt wurden. Es ist einfach nicht wichtig, wie die Gruppen sich zusammensetzen, sonst würde es der Autor erwähnen: Drei Männer und zwei Frauen treffen sich … , einige Frauen kramen … , die Erzieherinnen sowie die beiden Erzieher Paul und Jonas planen …

***

Rocktäschel bemüht sich um eine gewisse Systematik. Genaugenommen sind es mehrere Systematiken:
Zunächst werden die Arten zu gendern aufgezählt und ausführlich erläutert. Der Humor ist ebenfalls sehr bemüht: Schrägstrich und Binnen-I – »die Rentner:innen unter den Arten zu gendern«. Sehr witzig!
Des weiteren wird je nach Situation unterschieden –»Richtig gendern in jeder Situation«. Damit ist noch einmal geklärt, dass hier ein sehr exklusiver Klub bedient wird.

»Hier [bei Stellenanzeigen] ist Gendern Pflicht: Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz …«

Das stimmt. Das AGG verpflichtet die Arbeitgeber diesbezüglich, alle Geschlechter, seit 2019 also drei, zu berücksichtigen:
Suche Staplerfahrer m/w/d.
Mehr ist allerdings nicht verlangt.

Fazit:
Rocktäschel schreibt fröhlich und den Lesern zugewandt. Sie übertreibt etwas mit dem, was sie humorvoll nennt:
»Das perfekte Match … Für Sparfüchse … Alte Bekannte [wiederum keine Menschen, sondern Arten des Genderns] lädt man gerne ein … Sie gendern und keine:r merkt’s«
Sie ermuntert, zielgruppengerecht zu schreiben. Sie ringt um einzelne Wörter, zum Beispiel Ärzt:innenschaft »dann können Sie die Endung auch gleich weglassen.«

Als Sachbuchautorin versagt sie, weil sie eine Sache vermitteln will, die es nicht gibt. Das Gendern setzt Stolpersteine in die Sprache, es schafft aber keine Sprache. Luther hat dem Volk auf’s Maul geschaut; in seiner Sprache finden sich Dialekte und Gewerke, Werte und Wissen, quicklebendig und vertraut. Das Gendern schafft Verdruss und schlechtes Gewissen, weil man mehr darüber nachdenkt, wie man schreibt, und nicht mehr worüber. Es folgt einer Ideologie, die aus edlen Motiven erwachsen sein mag, inzwischen aber stalinistische Züge annimmt.

Das kann man Rocktäschel nicht vorwerfen. Dass sie das Buch geschrieben hat, schon.


1Layouter ist der Mensch, der für die graphische Gestaltung zuständig ist. Seine Arbeit trägt wesentlich zur Lesbarkeit bei. Wenn’s ein Klingone ist oder ein Vulkanier – auch recht. Das Geschlecht ist vollkommen gleichgültig, insofern schreibe ich geschlechtergerecht. Alle Geschlechter sind gleich, mir jedenfalls.
2Ich will damit sagen; dass eine Kunstsprache auch nur von den Künstlern verstanden wird. Und bijektiv bedeutet hier: Wenn du divers mit * übersetzt, dann muss das konsequent in beide Richtungen gehen. Divers heißt immer Sternchen, Sternchen heißt immer divers.
Signifikant und Signifikat:
Vielleicht ist das einer der Schlüssel zum Verständnis: Was hier steht – Physiker, Monteur, meinetwegen Schraubenschlüssel oder Kühlschrank – sind Wörter. Nichts weiter (vgl. »Ceci n’est pas une pipe«). Sie sind als männliche Substantive einsortiert. Also kann das jeweilige Wort auch nur einen Mann repräsentieren. Und mit dieser leicht paranoiden Vorstellung werden dann auch Wörter wie, nun ja, nicht gerade Kühlschrank, aber Arbeitgeber, Dienstleister, freier Träger etc. gegendert.
3Ich vermute: Oft hat man einen Patienten, der schon bei vielen verschiedenen Ärzten war.
4Das legen PISA-Ergebnisse nahe: »Jeder fünfte 15-Jährige erreicht beim Leseverstehen nur Grundschulniveau,« schreiben die Zeitungen voneinander ab. Man tut Grundschülern unrecht, vor allem denen, die lesen können.
Gemeint ist: Die betreffenden Schüler können praktisch nicht oder nur sehr unbeholfen lesen. Die 20 Prozent kann man getrost hochrechnen.
5Die zugehörigen Überschriften sagen mitunter etwas anderes. Das – der Umgang mit Statistiken – wäre ein Thema für einen eigenen Beitrag.

Lucia Clara Rocktäschel
Richtig gendern für Dummies

Wiley-VCH, 10,00 €

Man muss das Buch nicht kaufen, aber wenn, dann bitte im örtlichen Buchhandel, zum Beispiel hier.

3 Gedanken zu “Das Elend der Philologie

  1. Pingback: Philologie des Elends | Neuleerers Blog

  2. Danke für diese gute Zusammenfassung, drückt extakt meine Erfahrungen mit diesem Gender-Gaga aus.

    Gruß Felix Krupp-Materna

  3. Rocktäschel ist doch selbst das beste Beispiel: Sie gibt Schreibtrainings, ohne selber schreiben zu können. Dieses Gendern wird die deutsche Sprache auf Dauer verstümmeln.

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