Unterkiefer Oberkiefer

Unterkiefer Oberkiefer

Nadelarbeit: 5
(aus dem Zeugnis des Verf., Klasse 4b)

Früher war mehr Lametta.

Überhaupt war Lametta. Wir hatten ja nüscht, aber Lametta. Notfalls schnitt man sich welches aus Alufolie. Das war eine Heidenarbeit!

Wir waren vier Heidenkinder. Vater war Atheist in ungefähr dritter Generation, Mutter verließ ihr Dorf und ließ die Kirche dortselbst. Prompt zischte es später an der Hochzeitstafel aus dem zahnlosen Maul einer Dorfunschönen: »Da liegt kein Segen drauf!« Und doch war es erst der Tod, der die Eltern voneinander schied und letztlich von uns Heidenkindern.
Kein Geistlicher hat ihn begleitet. Sie auch nicht.

***

Lametta hatten wir, aber im Prinzip keine Bäume dafür. Oh Tannenbaum – Pustekuchen. Bei Nordmann dachten wir eher an einen Kollegen aus Rostock.

Kiefern gab es, aber die waren nicht zum Vergnügen da. Was dann als Weihnachtsbaum (Christbaum? – Gott bewahre!) angebotenen würde, kostete praktisch nichts, denn es war im Grunde Abfall. Gut gewachsene Bäume sollten für die Volkswirtschaft weiter gut wachsen.

Vater kaufte meistens zwei von den Scheusalen. Der weniger schlechte Baum war die Basis, quasi das Fundament, und diente als Grundlage des Lamettaträgers. Aus dem Rest wurde Tischschmuck, ein paar Zweige wurden zu Prothesen für Baum Nummer eins. In den Stamm wurden Löcher gebohrt, hinein steckten wir die geborgten Zweiglein. Auch die Kerzenhalter brauchten Löcher, freilich auch Kerzen.

Es brannte nie bei uns. Irgendjemand musste mal erinnert werden, dass es zweckmäßig ist, die oberen Kerzen zuerst anzuzünden. Es bedurfte aber nicht vieler Worte; wenn man sich über die unteren, brennenden, Kerzen wegen der oberen beugt, erklärt einem die unbarmheiße Realität die Regeln.

Ein rechtschaffen nostalgischer Aufsatz würde jetzt die heute fehlende Wärme beklagen, dem Wert von Vaters Oberkiefer
(wir wohnten oben, Familie W. unten, dort stand die Unterkiefer – ist das nicht brüllend komisch? Nein? Nun, für uns reichte es)
nachtrauern, die sparsamen Geschenke, die uns viel mehr bedeuteten als die Berge von heute und, ach ja, das Lametta.

Aber erstens wars ja auch furchtbar. Die Biester nadelten! Die Kiefer kam selten vor dem 24. Dezember ins Haus. Wir fanden aber schon am dritten Advent Nadeln im Fußbodenbelag. Ein Drittel der Nadeln landete im Treppenhaus, ein weiteres Drittel rieselte beim Aufstellen herab; anschließend war mehr Lametta im Baum als Grün.
Und fünftens soll, wer heute Wärme braucht, heute heizen.

Ja, manchmal gab es auch Fichten. Trotzdem stand bei uns die Oberkiefer.

 

Ein Gedanke zu “Unterkiefer Oberkiefer

  1. Ich meine, wir hatten Fichten. Jedenfalls, solange ich, die neun Jahre ältere Schwester im Elternhause lebte. Das wäre schade wegen des schönen Wortspiels Oberkiefer, Unterkiefer.

Hinterlasse einen Kommentar