
Berlin ist größer als die Hauptstadt der DDR
Ostberliner Studentenulk aus den 1980ern
Nein, es geht nicht um Spreeathen. Gott bewahre! Hat jemand aus dem Volk wirklich mal Telespargel gesagt, oder Magistratsschirm?
Es gibt den Berliner Witz, zweifellos. Der Neptunbrunnen hieß einst im Volksmund Forckenbecken und ausnahmsweise, für die Jüngeren, sei das erklärt:
Kollege Neptun hat einen Dreizack in der Hand, welcher einen, der vom Land kommt, an eine Mistgabel erinnert oder eben an eine Forke. Damit steht er im Granitbecken und als das Kunstwerk neu war, hieß der Berliner Bürgermeister Forckenbeck.
Für sowat könnt’ ick ma hinlejen. Forke und Becken, vastehste? Und denn heeßt der Typ ooch so.
Aba wieso berlina ick denn so? Ach so, dit war et:
Wir ham jetze hundert Jahre Jroß-Berlin.
Am 1. Oktober 1920 wurde Berlin nämlich so richtig städtisch:
Wilmersdorf kam dazu, außerdem Biesdorf, Hellersdorf, Kaulsdorf, Mahlsdorf. Und Heinersdorf, Hermsdorf, Reinickendorf. Natürlich Mariendorf und Zehlendorf. Und Bohnsdorf, Schmargendorf und Rahnsdorf.
Und Pichelsdorf – wenn das nicht nach Weltstadt klingt!
Wobei – das weltstädtische, literarische, künstlerische Berlin blieb ja in den paar Quadratkilometern zwischen Kupfergraben und Festungsgraben plus ein bisschen Friedrichswerder stecken, naja, ein bisschen Dorothenstadt, das bisschen Luisenstadt, sicher Königsstadt, allenfalls noch Stralau …
Ich meine, Berlin Alexanderplatz (Alfred Döblin) spielt ja nicht in Friedenau, oder? War Kurt Tucholsky jemals in Steglitz? Wilhelm Voigt kam bis Köpenick, aber das war ja Ausland und Walther von Lüttwitz mit seinem überhaupt nicht nach ihm benannten Kapp-Putsch? Der konnte das doch zu Fuß erledigen.
Nun kann die ganze Würdigung mir ja gestohlen bleiben. Soll das die Berliner Zeitung machen, der Berliner Rundfunk, der Berliner OB.
Berliner Herz- und Schnauzenträger lässt es vermutlich völlig kalt.
Was mir zunächst dazu einfällt, hat nämlich mit Berlin gar nicht so viel zu tun, sondern mit – Trommelwirbel – 100 Jahren!
1920 ist ganz schön weit weg. Das war es auch in meiner Kindheit. Mit dem Unterschied, dass ich in meiner Kindheit noch mit Zeitzeugen sprechen konnte, die 1920 gelebt haben. Aber die waren ja auch uralt. Und nun stelle ich mit nicht enden wollender Bestürzung fest, dass ich die meisten dieser 100 Jahre in den Klauen dieser Riesenstadt, die selbst halbwegs halbiert noch sehr unübersichtlich war, verbracht habe. Und da ich ja immer älter werde, wird der Abstand zwischen den Zwanzigern und mir relativ gesehen immer kleiner. Ich bin also auch zum großen Teil hundert.
Vastehste?
Kommen die Goldenen Zwanziger wieder?
Lassen wir mal das „Golden“ weg.
Man kann einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen wie mit einer Axt, sagte Heinrich Zille damals. Die Zustände, die er fotografierte und zeichnete, sind insofern anders, als heute nicht mehr acht oder zehn Menschen in Stube, Kammer, Küche hausen. Man lebt schon etwas großzügiger, aber immer weniger mitten in Berlin. Meine Berliner Wohnungen (bzw. die meiner Eltern, in denen ich ja auch irgendwie zum Inventar gehörte) könnte ich mir jetzt nicht mehr leisten, dabei verdiene ich gar nicht so schlecht.
Keine Wohnung ist heute genauso übel wie damals.
Laut Statista GmbH hat jeder Einwohner in Deutschland heute 47 Quadratmeter Wohnung zur Verfügung. Aber wie das so ist mit Statistiken: Meine Nachbarin rechts hat 105 Quadratmeter für sich, die Nachbarn links teilen sie sich zu zweit (nachdem das Kind ausgezogen ist); wir hausen zu viert.
315 m² geteilt durch sieben gleich 45. Passt. Das ist jetzt kein Mikro- sondern ein Nanozensus. Oder ein Nonsenszensus. Denn er berücksichtigt nicht, das wir zum mittleren Drittel der unteren Hälfte der Mittelschicht gehören. Und da es die obere Hälfte gibt und die Oberschicht mit hundert Quadratmeter großen Schlafzimmern, sieht es unten entsprechend übel aus.
Noch größer ist die Ungleichheit bei der politischen Dummheit. Davon ist genügend vorhanden, es reicht für fast alle. Und die Bandbreite ist größer. Damals war man Rotfrontkämpferbund oder SA, und das ist natürlich etwas anderes als Beatles oder Stones, Hertha oder Union, Pelikan oder Geha, aber die Dichotomie war doch ausgeprägter als heute.
Die wahren Durchblicker – die Reichsdeppen, die Armleuchter für Deutschland, die besorgten Bürger – sehen die anderen nur als linksgrünversifft oder als Schlafschafe, aber ein bisschen mehr Vielfalt gibt es schon bei diesen und auch bei jenen.
Und damals wie heute, bei allem, auch nicht vorhandenem Pluralismus, geht’s doch nur darum: Hast du was oder hast du nix. Hundert Quadratmeter für deinen begehbaren Kleiderschrank in deiner neoklassizistischen Villa im Grunewald oder sechzig Quadratmeter Hellersdorf für dich und deine Lieben.
Was immer noch so unbegreiflich ist wie damals: Dass die in den Hütten die Geschäfte derer in den Villen betreiben.
Jetzt bin ich aber, würde Urban Priol sagen, etwas abgeschwiffen.
Denn es geht um Berlin und zum Klassenkampf kommen wir schon noch.
100 Jahre Groß-Berlin stimmt so nicht ganz. Die Gründung ist hundert Jahre her, aber im Gegensatz zur Uroma, die in diesem Jahr hundert Jahre alt wird, war Berlin keine zwei Monate lang dasselbe. Es gab Aufbruch, Euphorie, Pioniergeist, es gab dumpfes Grauen, Zerstörung und Aufbau.
Und immer wieder überall Baustellen; Berlin wird nie fertig. Und nie wird man Berlin-Alexanderplatz begreifen, wenn man in Berlin-Neukölln wohnt. Zoo ist etwas anderes als Tierpark, Marzahn anders als das Märkische Viertel.
Die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts haben etwas Faszinierendes, ja. Mal abgesehen von der Musik, der Literatur, dem Theater – in Berlin konnten sich fünf, sechs Leute zum Tee treffen und das ist ja nichts Besonderes. Es konnten sich fünf, sechs Leute zum Tee treffen und über naturwissenschaftliche Erkenntnisse plaudern. Das mag heute schon schwieriger sein, wenn man der Industrie verpflichtet ist oder dem Militär.
Es gab solche Runden – kein Dünkel, kein Club, sondern normale Treffen normaler Wissenschaftler, die nur ganz zufällig allesamt Nobelpreisträger waren. Ja, es mag belanglos sein gegenüber dem Gestampfe der Stiefel, das gleichzeitig zu hören war und erst recht gegenüber dem dann folgenden Grauen, das – auch nur unter anderem – zumindest dem freien Geist ein Ende setzte. Aber das Eine hat mit dem Anderen zu tun.
Es ist ja nicht so, dass hundert Jahre später wieder solch ein Vernichtungsfeldzug vor der Tür steht, wie er nach den goldenenen und dann brauner werdenden zwanziger Jahren begann. Aber wenn man sich dessen sicher sein will, sollte man die Verachtung der Kultur, der Wissenschaft, des Intellektuellen als Beginn jeder Tyrannei ächten. Man muss nicht alles wissen oder alles mögen. Haltet nur folgende Banner in Ehren:
Sapere aude!
Cogito ergo sum!
De omnibus dubitandum!
Sind nicht die Schlafschafe eher unter denen zu suchen, die ohne zu denken den erstbesten Parolen folgen?
Gute Nacht, Deutschland! Gute Nacht, Berlin!